Interview mit Dr. Eric Scheidegger

Text: Daniel Fleischmann für éducation21

Gemeingüter ohne die Idee der Nachhaltigkeit ergeben keinen Sinn

Güter, die nicht in privatem Eigentum sind, sind Gemeingüter. Manche von ihnen stehen uns praktisch ohne Einschränkungen zur Verfügung, Wikipedia zum Beispiel. Bei anderen droht Übernutzung, wenn wir nicht nachhaltig wirtschaften. Eric Scheidegger, stellvertretender Direktor des SECO, ist überzeugt, dass sich die Güter dafür in privatem oder staatlichem Besitz befinden müssen. Bei globalen Gemeingütern wie dem Klima wird dies allerdings schwierig.

Eric Scheidegger, wir sitzen in Ihrem Büro. Wem gehört die Luft, die wir atmen?

Die Luft hat keinen Eigentümer. Wir alle dürfen sie konsumieren, Luft ist ein Gemeingut. Zudem ist Luft ein sogenanntes nicht rivalisierendes Gut: eine beliebig grosse Anzahl von Menschen kann es nutzen.

Was ist ein Gemeingut?

Unter Gemeingütern versteht man Dinge, deren Zugang man entweder nicht beschränken kann oder beschränken will. Ein Beispiel ist neben der Luft die Verkehrsinfrastruktur. Sie gehört zwar der öffentlichen Hand, ist aber allen zugänglich; es gibt ja keine Wegzölle mehr. Das Feld der Gemeingüter ist sehr breit: Der Wald, eine schöne Landschaft oder öffentliche Einrichtungen wie Spitäler gehören dazu.

Dann können Gemeingüter jemandem gehören?

Die meisten Gemeingüter sind im Eigentum von Personen oder Körperschaften. Aber sie unterscheiden sich je nach Nutzungsrecht. Während öffentliche Güter von allen konsumiert werden, stehen sogenannte Clubgüter nur einer bestimmten Personengruppe zur Verfügung – Pay-TV etwa. Das unterscheidet sie von Allmendgütern: Diese sind zwar für alle frei, die zur Gemeinschaft gehören, aber sie unterliegen der Gefahr der Übernutzung.

Ein Beispiel wäre die Überfischung

Genau. Übernutzung führt zur «Tragödie der Allmende», wie die Forschung sie nennt. Was passiert hier? Allmenden sind z. B. Wiesen in einem Dorf, die alle nutzen dürfen. Sie gehen aber kaputt, wenn jeder Bauer möglichst viele Kühe grasen lässt, um mehr Milch zu produzieren. Bereits im Mittelalter hat sich darum ein Allmendmanagement entwickelt, das in der Schweiz gut verankert ist. Die erste weibliche Trägerin eines Wirtschaftsnobelpreises, Elinor Ostrom, hat Prinzipien eines guten Managements beschrieben. Heute ist auch das Klima zu einem Allmendgut geworden, dessen Qualität durch Übernutzung bedroht ist.

Luft ist ein Gemeingut, sagten Sie. Der Meeresboden auch. Er gehört niemandem, aber jetzt beginnt man, ihn zu schürfen. Wie kann man das regulieren?

Solange das Eigentumsrecht nicht definiert ist, ist der Meeresboden ein Gemeingut mit unbeschränktem Zugang. Das ist mit dem Risiko der Übernutzung verbunden. Es reduziert sich, wenn wir den Meeresboden z. B. über die Vergabe von Schürfkonzessionen in privaten oder staatlichen Besitz überführen. Ein anderes Beispiel sind bedrohte Wildtiere, die in Reservaten leben und Eigentum von Personen, privaten Unternehmen oder Körperschaften sind. Allgemein gilt: Was mir gehört, dazu trage ich Sorge.

Welche Gemeingüter sind für die Schule interessant?

Zum Beispiel der öffentliche Raum. Wir alle nutzen ihn, auch Jugendliche. Wir können die Innenstädte besuchen, in der Natur wandern, eine öffentliche Kundgebung veranstalten. Aber wir erleben auch Nutzungskonflikte, sie gehören, wie die Übernutzung, zum Wesen von Gemeingütern. Die Innenstadt als Partyraum: Als Student war ich gern nachts unterwegs und störte mich an der Polizeistunde. Heute sehe ich die Kehrseite des respektlosen Umgangs mit dem öffentlichen Raum: Lärmemissionen oder Littering.

Was verbindet Gemeingüter und die Idee der Nachhaltigkeit?

Das Wesen der Ökonomie besteht ja in der Frage, wie man mit knappen Gütern nachhaltig umgeht – knappe Zeit in der Arbeitswelt, knappe Finanzen, knappe Umweltressourcen. Wer Gemeingüter nach den Regeln der historischen Allmenden bewirtschaftet, bewirtschaftet sie nachhaltig – sei es, weil natürliche Ressourcen nachwachsen können oder man sie, wenn sie nicht regenerierbar sind, mit Bedacht abbaut. Eine Bewirtschaftung von Gemeingütern ohne die Idee der Nachhaltigkeit ergibt keinen Sinn.

Sie erwähnten das Klima, das zum bedrohten Gut geworden ist. Hilft das Konzept des Gemeinguts,
es zu schützen?

Das Klimaabkommen von Paris, das seinerzeit 195 Staaten und die Europäische Union unterzeichnet haben, bildet den Versuch eines Krisenmanagements. Aber entscheidend wird sein, wie die Staaten die Ziele auf nationaler Ebene umsetzen. Hier kommen die Prinzipien von Elinor Ostrom an ihre Grenzen. Ich nenne drei davon: Wer legt fest, wer das Klima in welcher Weise belasten darf? Wie soll ein Monitoring der Nutzerinnen und Nutzer und der Ressource Klima stattfinden? Wie könnte man Verfehlungen einzelner Länder sanktionieren? Je grösser eine Gruppe ist, die ein Allmendgut nutzt, desto anspruchsvoller ist seine Verwaltung. Denn hier sind es – im Gegensatz zur dörflichen Allmend – nicht die gleichen Gruppen, die gemeinsam die Spielregeln definieren, die Kosten des Ressourcenverzichts tragen und den Nutzen daraus ziehen. Wenn alle Schweizerinnen und Schweizer 50 Prozent weniger reisen, tragen wir die Kosten des Verzichtes; der Nutzen aber entsteht in geringem Ausmass weltweit und erst in der Zukunft.

Das Konzept des Gemeinguts sieht den Menschen als kooperierendes Wesen, nicht als konkurrierenden Nutzenmaximierer (homo oeconomicus). Finden Sie das plausibel?

Da sehe ich keinen Widerspruch. Aber ich möchte ein Missverständnis zum homo oeconomicus korrigieren, einem wichtigen theoretischen Konzept der Ökonomie. Der homo oeconomicus ist nicht auf Maximierung des Gewinnes aus, sondern auf die Maximierung des Nutzens und des Wohlbefindens. Dazu gehören für viele auch Liebe, Wohlergehen oder Erlebnisse in der Natur. Kooperation bildet einen zentralen Antrieb, um diesen Nutzen zu steigern. Sie setzt Vertrauen voraus, weshalb es ohne Vertrauen letztlich keine funktionierende Wirtschaft gibt. Wenn der Staat nicht mehr darauf zählen kann, dass die Menschen respektvoll kooperieren, ist er zu Eingriffen gezwungen.

Wie kann man das Konzept der Gemeingüter schulisch nutzen?

Gemeingüter sind ein grossartiges Thema für einen interdisziplinären Unterricht. Der Begriff erlaubt uns eine gute Abgrenzung zu privaten Gütern. Er hilft auch, das Wesen gewisser Probleme zu begreifen, die in Nutzungskonflikten gründen. Am Beispiel des öffentlichen Raumes kann das nah an den Lernenden geschehen. Wichtig finde ich, dass die Wirtschaft dabei nicht, wie das gerne geschieht, nur als Verursacherin von Problemen gesehen wird – das ist es auch –, sondern als Lösungsbeitrag für die Weiterentwicklung eines nachhaltigen Wohlstandes. Für mündige Bürgerinnen und Bürger in einer direkten Demokratie ist es wichtig, sich mit den unterschiedlichen Sichtweisen der Nachhaltigkeit etwas auszukennen.